Samstag, 28. November 2015

Warum sehnt sich jeder nach Reisen?

In immer kleiner werdenden Abständen stolpere ich im Internet und im „echten Leben“ über Artikel und Vorträge, Reportagen und Blogs von Menschen, die auf Reisen gehen. Sie packen ihre Sachen, oder – nicht immer, aber anscheinend immer öfter – verkaufen und verschenken sie und reduzieren, minimieren, sie lassen alles hinter sich um auf Reisen zu gehen. Ich meine jene Art von Reisen, die man für gewöhnlich nicht als Urlaub bezeichnen würde, weil sie mehr sind als das. Manchmal dauern sie ein paar Monate, manchmal für ein Jahr, manchmal sogar länger. Oft finden diese Reisen im Auto oder umgebauten VW-Bus, oder – und auch das scheint mir ein neuer Trend – es findet auf eine noch langsamere Art der Fortbewegung statt – mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß.

Reisen wird fast schon zu einem neuen Weg zur Erleuchtung stilisiert. Ein Weg um sich selbst zu finden. Blogs beschäftigen sich mit diesem Thema, es gibt unzählige Bücher, die in diese Kerbe schlagen und ja, es gibt sogar Reise-Festivals. Ich war einmal auf so einem - da kann man sich den ganzen Tag Reiseberichte anhören von Menschen, die das Reisen für sich entdeckt haben und es lobpreisen.

Es klingt jetzt fast so, also könnte ich dem Reisen nichts abgewinnen, dabei ist jedoch das Gegenteil der Fall. Auch ich spiele mit dem Gedanken einmal den Alltag für längere Zeit hinter mich zu lassen. Raus aus dem Hamsterrad, hinein ins Leben.
Doch nachdem ich jetzt schon einige Monate den Gedanken von hier nach da schiebe, ihn drehe und wende, fällt mir etwas auf:
Was ist es, was uns antreibt? Uns, die wir uns wünschen, dem Alltag zu entfliehen. Warum wollen wir nichts wie weg? Ist es wirklich nur der Wunsch die Welt zu sehen? Ist es die Sehnsucht nach Abwechslung? Oder ist es mehr als das?
Wollen wir vor etwas fliehen? Und wenn ja, wovor?
Natürlich bleibt es jetzt nicht bei diesen Fragen, denn in meinem Kopf formen sich schon automatisch Antworten darauf.

Mir scheint es, es ist tatsächlich eine Flucht. Eine Art „Scheiß drauf, ich bin dann mal weg.“ Und das Ironische dabei ist, wir scheinen doch in der lebenswertesten Welt zu leben. Zumindest behauptet das jeder. Millionen von Menschen wollen da hin, wo wir sind, wollen unseren Lebensstil, wünschen sich so zu sein wie wir und das zu haben, was wir haben. Und wir? Wir wollen weg. Alles weg. Ich sprechen jetzt auch aus meiner Perspektive, doch diese Aussagen und Sichtweisen habe ich schon oft von anderen mitbekommen und immer wieder kommen diese Aussagen zutage:
Das immer mehr haben müssen und ständig dafür im Hamsterrad laufen müssen wird uns zuwider. Wir erkennen, dass uns die Handys, die Tablets, die Laptops, Flachbild-Fernseher, die dazugehörigen Gadgets, die ganzen Sticks und Kabel und Kastln mit Apps, Serien, Filmen, Dokus, Fernsehprogrammen und was es da sonst noch gibt, einfach nicht mehr glücklich machen. Auch nicht die Kleidung, die Möbel, die Deko fürs „Schöner-Leben“, auch nicht die teuren Bio-Lebensmittel und die grünen, veganen Smoothies. Mir zumindest fällt einfach nichts ein, was ich mir kaufen könnte, was mir jetzt in meinem Glücks-Level etwas bringen würde. Und es ist nicht so, dass mein Glücks-Level auf höchstem Niveau angekommen wäre. Da ist noch viel Luft nach oben.
Fast beneide ich die Menschen, die sich glücklich kaufen können. Ich kann das nicht. Ich kann das schon lange nicht mehr. Um es mit den Worten von Funny van Dannen zu sagen: „Ich will den Kapitalismus lieben, aber ich schaffe es einfach nicht."

Und vielleicht kommt aus diesem Gefühl, aus dieser Erkenntnis, der Entschluss, mit allem aufzuhören, was man bisher getan hatte. Man will nicht mehr arbeiten, nicht mehr jeden Tag den gleichen Weg zurücklegen, nicht mehr jeden Tag die gleichen Gesichter, Straßenzüge und Gebäude sehen. Man will mal was Neues, etwas, das man noch nie gesehen hat. Hier mischt sich auch die Sehnsucht nach der Herausforderung dazu. Ist es denn nicht so, dass das doch alles keine Herausforderung mehr ist, was wir täglich machen? Haben wir doch schon hunderte Male durchgespielt. Und auch da denke ich mir - ich würde es gerne so akzeptieren können, doch ich denke mir nur allzu oft - wie langweilig.

Schlussendlich ist es wahrscheinlich das, wovor sie fliehen, die Reiselustigen und Reisehungrigen: vor dem Alltag, vor der Eintönigkeit. Am Ende fliehen sie vor dem gesicherten Leben, also davor, was uns als perfekt und erstrebenswert angepriesen wird. Und es wird klar - viele wollen gar kein sicheres Leben. Denn ein sicheres Leben ist ein langweiliges Leben.

Und dann frage ich mich wieder: Ist das die Lösung? Ist das die Lösung für unsere „Probleme“? Alles hinter sich zu lassen und auf eine Flucht-Reise zu gehen? Sollten wir nicht, sollte ich nicht das bekämpfen und ändern, was mich dazu bringt die Flucht antreten zu wollen? Es ist doch ein Warnzeichen, wenn man das Gefühl hat die Flucht antreten zu wollen? Das ist doch so ein Impuls, etwas, das vielleicht noch vom Gefühl her aus der Urzeit stammt. Doch hier sitzt uns kein Säbelzahntiger im Nacken, wie es so schön heißt, sondern es sind ganz andere, viel abstraktere Probleme, wo es meistens nicht hilft, einfach vor ihnen wegzulaufen. Denn was ist, wenn ich irgendwann wieder zurückkomme? Dann warten sie hier auf mich – und ich mag dann nicht schon wieder reisen müssen, da kommt man ja nie zur Ruhe.

Deshalb denke ich mir immer öfter – nein – ich werde genau aus diesem Grund keine Weltreise antreten, obwohl es sicher schön wäre mehr von dieser Welt zu sehen. Aber dieser Grund, die Flucht, ist der falsche Grund. Ich will ihn nicht zum Anlass nehmen.

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